54. Glaubensbrief - November 2010   PDF-Zeichen als PDF-Datei (151 kB)

Der Tod meines Freundes
   

Das Kloster in Tajimi / Japan

Ich will euch von meinem Freund Josef Schiebek erzählen. Er war weit älter als ich, etwa achtzig Jahre alt. Es mag euch seltsam vorkommen, dass man einen alten Mann von achtzig Jahren zum Freund haben kann. Aber wenn man als Deutscher in einem fremden Land wie Japan lebt, dann rückt man mit seinen Landsleuten enger zusammen. Josef Schiebek war ein deutscher Pater (Priester), der wie ich in Japan lebte. Und zwar lebte er in einem alten Kloster, das von Deutschen erbaut worden war. Trotzdem passte es gut in die japanische Landschaft. Es lag auf einer Anhöhe und war rings von einem ausgedehnten Weinberg umgeben. Die Japaner liebten dieses Kloster mit seinem schmucken roten Ziegeldach. Oft kamen sie zu Besuch und nahmen, wie es in Japan üblich ist, ein lokaltypisches Andenken mit für ihre Lieben daheim. Das typische Andenken dieses Klosters war eine Flasche hausgemachter Rotwein oder Weißwein, denn das Kloster war der einzige Ort weit und breit, wo es einen Weinberg gab.

Er unterhielt sich mit den Toten

Wenn ich an der Universität frei hatte, fuhr ich oft zu jenem Kloster hinaus, um Pater Schiebek zu treffen. Wir machten dann weite Spaziergänge durch die Bambuswälder zu einem einsamen Fluss oder zu einem buddhistischen Tempel.

P. Josef Schiebek

Josef Schiebek liebte es, kurze Texte zu verfassen. Es waren kleine Meditationen, oft in Form von Geschichten oder Märchen. Er schickte sie in seinem Weihnachtsbrief allen seinen Bekannten zu. Sie waren leicht zu lesen, aber voller Tiefsinn.
Regelmäßig besuchte er den kleinen Klosterfriedhof, der von einem Bambuswäldchen umgeben war. Dort konnte man hören, wie er an jedem Grab stehen blieb und Zwiegespräche mit den Toten hielt. Er kannte sie alle.

Es war kein Rettungswagen verfügbar

Dann kam der 15. September – in Japan ein Feiertag. Es ist „der Tag der Ehrfurcht vor den Betagten“. Am Nachmittag sagte mir jemand: „Hast du schon gehört: Pater Schiebek hat einen Herzinfarkt erlitten“. Man wollte sofort den Krankenwagen rufen, aber wegen des Feiertags war zu der Zeit keiner zu bekommen. So musste man den Todkranken auf dem Rücksitz eines normalen Autos ins Krankenhaus fahren, wo er noch am gleichen Abend starb. Es scheint mir wie eine Ironie, dass es ausgerechnet wegen des Tags der Ehrfurcht vor den Betagten war, weshalb es für diesen Betagten keine genügende Hilfe gab.

Am nächsten Tag war ich der erste, der das Zimmer des Verstorbenen betrat. Es lag noch alles so da, wie er es am Vortag verlassen hatte. Doch dort, in der Schreibmaschine, steckte noch ein Blatt Papier. Ich zog es heraus, neugierig, was wohl das letzte geschriebene Wort von Pater Schiebek sein würde.

Ich las die Worte des Toten

Es war der letzte und schönste der kurzen Texte, die er verfasst hat. Äußerlich gesehen ein Blick aus dem Fenster:
er sieht den blauen Himmel, über den dunkle Wolken gleiten - für ihn ein Bild des Bösen, das sich immer wieder über das Gute in ihm schieben will. Ein fernes Wetterleuchten, lodernde Blitze im fernen Gewölk. -
Das Folgende erstaunte mich so sehr, dass ich es wörtlich zitiere. (Die Prosa, mit der der Text anfing, geht hier immer mehr in metrische Rede über.):

Der Tag erwacht
Foto: Ulla Trampert / pixelio.de

„Dem Bösen überliefert,
wegfegt der Reueblick blitzloderndes Gewölk.

Die starke Stille panzert mein Gemüt,
dem Reinen und dem Wahren zugekehrt.
Den Mangel nicht in Böses zu verkehren,
dass Schwäche kann des Bösen sich erwehren.

Wie kühler Nachttau fällt der Trost hernieder,
die Seele reckt sich wie der Gräser Halm,
zu Tale sank der Zweifel trüber Qualm.

Wenn Morgenlicht die Seele sanft durchschimmert,
die herbe Nachtluft wärmt der Sonne Strahl,
steigt Kraft zum Wandern mir in alle Glieder,
das fernste Ziel mir in die Nähe rückt.
Zum Guten wandern, oh, wie das beglückt!“

Morgenlicht

Hat mein Freund seinen Tod vorausgeahnt? Die große Wanderung zum fernsten Ziel – was ist das anders als die Wanderung aus diesem Leben zum Ziel des Menschen im Jenseits? Er sah seinen Tod voraus, aber das war für ihn nichts Schreckliches. Es war wie der Aufbruch zu einer großen Wanderung. „Zum Guten wandern, oh, wie das beglückt!“ – So möchte ich am Morgen meines Todes sprechen können.

Ich habe dieses letzte Blatt aus seiner Schreibmaschine bis heute aufbewahrt, obwohl inzwischen viele, viele Jahre vergangen sind, und hüte es wie einen Schatz.
Und ich habe dieses erlebte Beispiel für euch aufgeschrieben, meine Leser und Freunde. Ihr seht, wie weit ein gläubiger Mensch kommen kann: der Tod schreckt ihn nicht mehr, im Gegenteil.
Auch euch wünsche ich, dass ihr nach und nach zu einem solch beglückenden Glauben kommt

Euer
Karl Neumann