50. Glaubensbrief - Juli 2010   PDF-Zeichen als PDF-Datei (146 kB)

Chinas Christen im Aufbruch
   

Bis heute prägt das Konterfei
Mao Zedongs das Straßenbild
mancher Städte.

„Ist es eine Ironie der Geschichte oder die Wirkung des unbändigen Geistes, dass ausgesprochen in einer Zeit, wo viele im Westen vom Christentum enttäuscht, sich östlichen Lehren zuwenden und der Westen immer mehr entchristlicht, dass ausgerechnet da das Christentum ein neues Publikum gewinnt: in China, wo das Christentum so oft verfolgt und unterdrückt wurde“. So schreibt Roman Malek, einer der besten Kenner Chinas und seiner religiösen Situation.
Dieser „Ironie der Geschichte“ will ich heute einmal nachspüren.

China, das bevölkerungsreichste Land dieser Erde, wird (immer noch) vom Kommunismus beherrscht. Als Mao Zedong mit seinen Truppen im Jahre 1949 ganz China erobert hatte und die Volksrepublik China gegründet wurde, begann für die Christen eine Zeit harter Verfolgung. Sie erreichte ihren grausamen Höhepunkt in den zehn Jahren der Kulturrevolution 1966 bis 1976. Einer meiner chinesischen Freunde erzählt:

„Sie spuckten meinem Großvater ins Gesicht“

„Mein Großvater hatte einen tiefen Glauben. Obwohl seine Familie vielmal von Roten Garden beleidigt und geschlagen wurde oder einen Monat lang bei Tag und bei Nacht nicht schlafen durfte, blieben sie immer fest. Seine Familie wurde durch die Straßen geschleppt, und die Roten Garden spuckten ihnen ins Gesicht. Als sie um Mitternacht zurückkamen, waren sie todmüde. Aber sie haben sich auf den Boden gekniet, um zu Gott zu beten. Manchmal kamen ein paar Gläubige in der Nacht zu ihnen, um einander zu trösten und miteinander die Vesper zu beten, die Bibel zu hören und zu teilen. Nachdem sie gebetet hatten, waren ihre Herzen in großem Frieden. Sie spürten, dass der Herr mit ihnen war und Gott ihnen Kraft gab.“

Nach der Kulturrevolution, als Deng Xiaoping an die Macht kam und Experimente mit einem kapitalistischen Wirtschaftssystem machte, begann sich die Verfolgung der christlichen Kirchen ganz allmählich zu lockern. Heute gibt es fünf anerkannte Religionen in China: Daoismus, Buddhismus, Islam, Protestantismus, Katholizismus. (Protestantismus und Katholizismus werden tatsächlich als zwei Religionen gezählt!) Es gelang dem kommunistischen Staat allerdings, sowohl die protestantische wie auch die katholische Kirche zu spalten. Bei den Protestanten gibt es die vom Staat anerkannte Drei-Selbst-Kirche und die illegalen Hauskirchen. Bei den Katholiken in ähnlicher Weise die illegale Untergrundkirche und die vom Staat anerkannte Offizielle Kirche. Die katholische Kirche zählt heute (Offizielle Kirche und Untergrundkirchen zusammengenommen) etwa 13 Millionen Mitglieder, das sind mehr als vor der Zeit des Kommunismus. Weit stärker ist die protestantische Kirche. Genaue Zahlen sind besonders bei den illegalen Hauskirchen naturgemäß schwer zu ermitteln, aber man schätzt die Zahl der protestantischen Christen, wieder beide Teile zusammengenommen, auf etwa 60 Millionen Gläubige. Im kommunistischen China leben also weit mehr Christen als in Deutschland.

Die Hauskirchen schießen wie Pilze aus dem Boden

Besonders erfreulich ist das Wachstum bei den protestantischen Hauskirchen. Sie schießen z.B. in Peking und anderen Städten wie Pilze aus dem Boden. Hier eine Reportage über eine Hauskirche in Peking:
„Die Hauskirche hat zwanzig Brüder und Schwestern. Sie treffen sich jeden Sonntagnachmittag in einer unauffälligen Wohnung eines Hochhauses im Pekinger Stadtteil Haidian. Die Zusammenkunft beginnt mit dem Singen von Kirchenliedern, dann wird gebetet und aus der Bibel gelesen. Der Gruppenälteste hält eine Predigt. Danach kann jeder erzählen, man hört einander zu, es gibt Zuspruch, die Gruppe überlegt, wer Hilfe braucht, wem man etwas Gutes tun kann“ (FAZ).
Diese Gruppe ist Teil einer Bewegung, die in den vergangenen Jahren rapide gewachsen ist. Sie ist nicht straff organisiert wie die katholische Kirche. Manchmal gehören diese Hauskirchen zu einer größeren Gemeinde, manchmal sind sie auch völlig selbständig. Die Regierung beobachtet dieses Wachstum mit Sorge, die Polizei greift oft ein, an anderen Orten dagegen werden die Hauskirchen stillschweigend geduldet.

Der Glaubenseifer der chinesischen Christen ist für uns liberale Europäer absolut erstaunlich. Katholische Christen versammeln sich z.B. zwei mal am Tag zum Gebet, morgens und abends. Die Leitung liegt in den Händen von Laien, der Priester kann vielleicht nur einmal im Monat vorbeikommen und die Eucharistie feiern.

Maos fromme Enkel

Geht die Bewegung weg von kommunistischer
Propaganda hin zu religiösen Werten?

Doch das Erstaunlichste: Auch außerhalb der prozentual kleinen Schar der Christen dringt das Christentum wie ein verborgener Sauerteig in die chinesische Gesellschaft ein. Die meisten Chinesen glauben nicht mehr an die kommunistische Ideologie. Sie haben den Glauben an alle Ideologien verloren. Es ist ein großes Vakuum. Chinas junge Menschen sind geistig auf der Suche nach etwas, das ihrem Leben Sinn gibt. Und bei dieser Suche entdecken nicht wenige das Christentum. Für andere ist die florierende chinesische Wirtschaft das, wofür sie sich nach dem geistigen Zusammenbruch des Kommunismus engagieren. Aber die Wirtschaft kann keine Werte vermitteln. Das Denken in kapitalistischer Gewinnmaximierung hinterlässt einen schalen Nachgeschmack beim Einzelnen, und es kann für die Gesellschaft die Werte nicht erzeugen, die sie braucht. So führt auch die Enttäuschung am reinen Wirtschaftsdenken zu einer Suche, an deren Ende nicht selten das Christentum steht. Ein dritter Grund ist völlig paradox: Der kommunistische Staat hat in Peking und anderen Großstädten Institute zur Erforschung der Religion aufgebaut. Dort sollen die Religionen studiert werden, um ihre Haltlosigkeit und ihren Irrtum aufzuzeigen, um sie so ideologisch besser bekämpfen zu können. Doch der Schuss ging nach hinten los. Anstatt das Christentum zu widerlegen, bekam eine Reihe von Wissenschaftlern Interesse und Sympathie für diese Religion.

Die Menschen, die ich gerade beschrieb, nennt man Kulturchristen. Sie kommen meist durch intellektuelle Auseinandersetzung oder Studium zum Christentum und nicht durch Kontakt mit einer bestimmten Kirchengemeinde. Viele lassen sich daher auch nicht taufen. Trotzdem fühlen sie sich als Christen. Sie vor allem sind das neue Publikum, welches das Christentum nach Malek in China gewonnen hat. „Maos fromme Enkel“ – so nennt sie der Journalist Hanspeter Oschwald im Titel eines neuen Buches. An solche „missratenen“ Enkel hätte der alte Mao nicht einmal im Traum gedacht.

Mit einem hoffnungsfrohen Gruß
Euer
Karl Neumann