49. Glaubensbrief - Juni 2010   PDF-Zeichen als PDF-Datei (150 kB)

Bin ich konservativ?
   

Über viele Wogen des Lebens
bin ich gesegelt, habe viele Stürme erlebt.
Haben mich die vielen Erfahrungen am Ende
müde für Veränderungen werden lassen?

Bin ich konservativ geworden? Das frage ich mich manchmal besorgt. Besorgt deshalb, weil ich nie und nimmer konservativ sein wollte, Zeit meines Lebens nicht.
Als ich Theologiestudent war, kam ein neuer Papst an die Regierung, er nannte sich Johannes XXIII. Noch kein Jahr war er im Amt, da rief er schon ein allgemeines Konzil aus. Die Konservativen hielten diese Idee für verrückt, wir Jungen und Junggebliebenen jubelten. Es war eine Zeit der kühnsten Erwartungen: jetzt war die Chance für eine grundlegende Reform der (katholischen) Kirche. Das Konzil trat 1962 zusammen, und es begann mit einem Paukenschlag: zwei Kardinäle standen auf, beantragten eine Änderung der Geschäftsordnung. In der Folge wurden all die stockkonservativen Dokumente, welche die römische Kurie vorbereitet hatte, in den Papierkorb geworfen. Von jetzt an schrumpften die Konservativen auf dem Konzil immer mehr zu einer Minderheit zusammen. Wir dagegen sahen uns als Gewinner und meinten höchstens, dass „die da unten in Rom“ jetzt endlich von der trefflichen deutschen Theologie und Liturgie gelernt hätten.

Kopfüber in die Krise

1965 war das Konzil zu Ende, und für die katholische Kirche begann der Streit darüber, wie man das Konzil umsetzen müsse. Die Kirche stürzte aus der Hoch-Zeit der Konzilsjahre sozusagen kopfüber in eine Krise ohnegleichen. Die Reformen, welche das Konzil brachte, gingen den Progressiven nicht weit genug, den Konservativen dagegen gingen sie schon viel zu weit. Diese schrieben die ganze Krise dem Konzil zu und hätten es am liebsten zum Teufel gewünscht, jene glaubten, die Reformen seien nur halbherzig, und das sei die Ursache der ganzen Misere.

Die achtundsechziger Revolution in der Kirche

Was die Sache noch verschlimmerte: die Krise der katholischen Kirche fiel zusammen mit einer tiefen Krise und Umwandlung der ganzen Gesellschaft. Es war ja die Zeit um das Jahr 1968. Ich war überrascht, als ich in jenen Jahren wieder einmal meine alte theologische Hochschule besuchte: in zwei, drei Jahren war eine neue Generation von Studenten herangewachsen. Es roch nach Revolution. Progressiv hieß nun nicht mehr: im Sinn der Reformen des Konzils. Nein progressiv hieß jetzt: links, sozialistisch, marxistisch, revolutionär.
Die „Revolution“ bekamen bald auch die Professoren unserer Hochschule zu spüren: einige von ihnen wurden von den Studenten „abgeschossen“ (so nannte man das).
Ich hatte marxistisches Denken am intensivsten bei Ernst Bloch kennen und schätzen gelernt. Sein monumentales Werk „Das Prinzip Hoffnung“ hatte ich bereits 1962 gekauft und gründlich gelesen. Es war nicht mehr als eine Handvoll Bücher, die ich besaß, aber das „Prinzip Hoffnung“ gehörte dazu. Ich war begeistert davon, dass hier ein Marxist die europäische Kultur kannte wie kaum ein zweiter, auch die christliche Kultur, dass er einen weiten Horizont hatte, von dem wir Christen nur lernen konnten, und alles auf Hoffnung und Zukunft hin interpretierte. Nicht nur Bloch, auch Theologen wie J. B. Metz und J. Moltmann und die „Theologie der Befreiung“ standen bei mir hoch im Kurs.
Kurz: Ich durfte mich sowohl im Sinne des Konzils wie im Sinne der Sympathie für den Marxismus zu den Progressiven zählen.

Die Lust am Niederreißen

Schwierig wurde es aber dann, als ich die Zustände in unserem Ordensseminar näher kennen lernte und ein wenig mitzugestalten hatte. Es war eine Zeit des Niederreißens. Erst wurden religiöse Übungen abgeschafft, die man noch als peripher ansehen konnte. Doch die Lust am Abschaffen wuchs und machte nicht eher Halt, als bis dieser Spitzhacke so ziemlich alles zum Opfer fiel, was einem bequemen Ordensleben im Weg stand.
Was tun? Wenn man sich diesem Trend zum Abschaffen entgegenstellte, wenn man sagte, dass religiöses Leben nicht nur im Niederreißen, sondern mehr noch im Aufbauen besteht, wenn man dem Irrtum entgegentrat, der eine liberale Haltung schon für progressiv hielt – war das konservativ? Ich war jedenfalls überzeugt davon, dass Befreiung nie eine Befreiung von einem engagierten Glaubensleben sein dürfte. Ganz heutig sein und doch ganz gläubig sein; ganz gläubig sein und doch ein Mensch von heute sein: das war es.

Verschiedene Generationen - verschiedene Welten?
Eine Welt - verschiedene Ansichten?
Verschiedene Ansichten - und trotzdem
aufeinander angewiesen.

War das progressiv oder war es konservativ? Wenn man in einer Sackgasse zurückgeht, um den richtigen Weg wieder zu finden – ist das dann Rückschritt oder Fortschritt? Vielleicht sind diese verkürzten Schlagworte nicht viel mehr als Etiketten, die man auf eine Flasche klebt. Die Etiketten sind ja schließlich nicht so wichtig. Wichtig ist der Inhalt.

„Ihr lebt doch in einer anderen Welt!“

Viele Jahre sind inzwischen vergangen. Die Zeiten haben sich wieder und wieder geändert. Meine Haare sind mittlerweile grau geworden. Den Kredit der Jugend habe ich längst verloren. Und doch fuchst es mich, wenn junge Leute zu mir sagen: „Leute in deinem Alter können unsere Denkweise ja gar nicht verstehen. Ihr lebt doch in einer anderen Welt!“. Gegen dieses Killer-Argument kann man nichts vorbringen. Denn alles, was man sagen könnte, steht ja von vornherein unter dem Verdikt: „Hoffnungslos rückständig!“
Bin ich konservativ? Auf jeden Fall möchte ich mich mit meinem Leben dafür einsetzen, dass Vorurteile schwinden und das Gespräch zwischen Jungen und Alten nicht abbricht.

Ein wenig sollten dazu auch diese Glaubensbriefe beitragen.
Das wünsche ich mir und Euch

Euer Karl Neumann