41. Glaubensbrief - Oktober 2009   PDF-Zeichen als PDF-Datei (169 kB)

Ich werde alt
 

Karl Neumann unterwegs
mit der S-Bahn in München.

Es hat keinen Zweck, es zu vertuschen. Ihr seht es ja doch auf dem Foto: meine Haare sind schon grau, besser gesagt: schon weiß. Und wenn ihr auf „Autor“ klickt, erfahrt ihr auch mein Geburtsjahr. Ich bin dieses Jahr siebzig Jahre alt geworden.
Da erfahre ich am eigenen Leib, was Altwerden heißt. Und darüber möchte ich heute ein wenig mit euch nachdenken.

Aber interessiert euch das? Was habt ihr für ein Interesse, die Bekenntnisse eines alten Mannes anzuhören. Ihr seid jung (nehme ich an), und ihr denkt nicht viel ans Alter. Ihr merkt: alte Leute klagen entweder über ihre diversen Wehwehchen, oder sie klagen über die heutige Zeit und die „Jugend von heute“ – „Früher war doch alles besser“. Oder sie versuchen, euch Belehrungen und Ratschläge zu erteilen, aus ihrer „langen Erfahrung“. Und zu all dem habt ihr keine Lust. Das kann ich gut verstehen.

Wenn ich es trotzdem wage, über meine Erfahrung mit dem Altwerden zu schreiben, dann werde ich es nicht mit erhobenem Zeigefinger tun, sondern als Einladung zum Gespräch.

Fritzchen und die Oma

Es beginnt mit Alltäglichem, oft Banalem. „Wo hab ich denn wieder meine Brille hingetan?“ Man braucht ja, je älter man wird, mehr und mehr „Krücken“: die Brille, den Stock, die dritten Zähne, oder was es sein mag, sodass ich oft an den alten Witz denken muss, wo Fritzchen der Oma abends zusieht, wie sie ein Teil nach dem anderen ablegt und er voller Neugier schaut, ob am Ende von der Oma noch etwas übrig bleibt.

Der Alltag wird dadurch immer komplizierter, und zugleich lässt das Gedächtnis nach, das man für dieses komplizierte Leben braucht. „Hast du das vergessen? Das habe ich dir doch schon drei mal gesagt!“ tadeln mich meine jungen Freunde vorwurfsvoll, und einer sagte neulich: „Das habe ich dir doch schon vierzehn mal gesagt!“ Er hat anscheinend jedes Mal genau Buch geführt.

Fahrt aufs offene Meer

Aber ich will noch von einer anderen Erfahrung sprechen, die mir weit wichtiger ist. In der Jugend hatte ich das Gefühl, mit meinem Lebensschiff aufs offene Meer hinauszufahren. In unendlicher Weite lag das Leben vor mir. Ich interessierte mich für vieles. Wollte kein Schmalspurmensch sein.

Das weite offene Meer. Unendlich. Grenzenlos.
 

Doch jetzt ist die unendliche Weite zusammengeschrumpft zu einem kleinen Teich. Überall kann ich die Ufer sehen. Meine restlichen Tage sind leicht zu zählen. Das Ende des Lebens kommt in Sicht. Mir dämmert allmählich, dass ich dieses Buch nie mehr lesen, jene Fotos und Tagebücher nie mehr in die Hand nehmen werde. Dass ich mein Japanisch und Französisch nie mehr brauchen, jene Reise nie mehr machen, diese Pläne nie mehr realisieren werde. Ich fange an, kleine Brötchen zu backen.

Lernen, loszulassen

Doch ich möchte das nicht nur negativ sehen. Wenn das Lebensschiff in der Jugend auf das weite, unendliche Meer hinausfährt, so läuft es im Alter allmählich in den Hafen ein. Ich denke jetzt, wo ich älter bin, oft an das Wort, das Frère Roger von Taizé mir einmal gesagt hat. „Arm werden, arm werden, immer mehr arm werden“ gab er mir als Ratschlag mit.

Wenn man älter wird (und vielleicht schon vorher) nimmt das Leben einem immer mehr aus der Hand. Die Arbeit, die man so gern gemacht hat, kann man nicht mehr tun. Der liebste Mensch wird einem genommen. Die Augen werden so schlecht, dass man nicht mehr lesen kann. Und manches mehr, bei dem einen dies, bei dem anderen jenes.

Das alles wird mir aus der Hand genommen. Ich kann nun die Hand krampfhaft zusammenballen und mich wehren. Oder ich kann die Hand öffnen und sagen: Arm werden, arm werden, immer mehr arm werden. Und loslassen. Ich nehme meine wachsende Armut an und glaube Jesus, der gerade die Armen selig gepriesen hat.

Die letzte Zuspitzung dieser Armut ist der Tod. Da wird einem alles aus der Hand genommen. Aber es gibt Leute, die auch da noch mit letzter Kraft die Hand zusammenballen und nichts hergeben wollen. Und es gibt Menschen, die den Tod nicht als Katastrophe empfinden, sondern als höchste Konsequenz ihres Lebensideals: arm werden, arm werden, immer mehr arm werden.
So kann das Schiff ruhig in den Hafen einfahren, der sein letztes Ziel ist.

Gebet des älteren Menschen

Ich möchte mit einem Gebet schließen, das ich irgendwo gefunden habe und das gar nicht feierlich ist: dem „Gebet des älter werdenden Menschen“:

Ich hoffe, ich bin jetzt nicht selbst in die Fettnäpfchen hineingetappt, die in diesem Gebet genannt wurden.

Euch wünsche ich eine gute Fahrt aufs offene Meer des Lebens – und eine gute Heimkehr.

Euer Karl Neumann