35. Glaubensbrief - April 2009   PDF-Zeichen als PDF-Datei (131 kB)

Warum?

Während ich dies schreibe, sind die Zeitungen voll von dem Amoklauf von Winnenden. Die Schüler der Realschule sitzen friedlich und nichtsahnend im Klassenzimmer: die Tür geht auf und herein kommt ein junger Mann. In kürzester Zeit hat er neun Schüler(innen), drei Lehrerinnen und später drei Passanten auf der Straße ermordet. Unfassbar! Gerade ein paar Tage früher war es, da saßen zwei Jugendliche, der eine 17, der andere 24 Jahre alt, im Dachgeschoss ihres Hauses. Mit einem Mal tat sich die Erde auf, das ganze Haus stürzte zusammen und versank in der Erde, die beiden waren sofort tot. Ihre Leichen fand man unter den Trümmern. So geschehen am Nachmittag des 3. März 2009 in Köln.

Das sind schreckliche Unglücksfälle, die in den Medien als Top-Nachrichten erscheinen. Doch es gibt zahllose andere Unglücksfälle, es gibt Schicksale, unter denen ein Mensch zusammenbricht, und die uns fragen lassen: Warum? Warum muss gerade dieser Mensch eine so schwere Last schleppen, während ein anderer mit einem leichten Päckchen fröhlich pfeifend auf seiner Lebensstraße dahinzieht? Ist das gerecht? Warum hat es vielleicht gerade mich getroffen und den anderen nicht? Ist das Zufall? Oder hat ein Gott mir das eingebrockt?

Die Griechen

Den einen reißt es aus dem Strom
des Lebens heraus, den anderen nicht.

Die alten Griechen sagten: Es ist das Schicksal. Ein Gott war nicht schuld, denn gegen das Schicksal, die dunkle Moira, waren selbst Götter machtlos. So waren denn die Götter fein heraus.

Doch als der eine Gott der Christen die vielen Götter der Griechen und Römer ablöste, konnte man ihn nicht mehr so leicht von der Verantwortung für das Schicksal der Menschen dispensieren. Woher das Böse? Gibt es überhaupt das Böse, oder ist das Böse nicht vielmehr das Fehlen des Guten, also ein Mangel, nicht ein Sein. Das sieht aus wie ein theologischer Taschenspielertrick, war aber die Antwort einiger der berühmtesten Theologen auf das Problem des Bösen. Wie dem auch sei – einem Gequälten und Leidenden wird eine solche Antwort kaum Trost spenden.

Die Hexen

Eine andere „Lösung“ hatte ihre Wurzeln im mittelalterlichen Volksglauben. Es war der Hexenglaube. Starb ein Mann im frühen Jugendalter? Wurde eine Frau von einer geheimnisvollen Krankheit befallen? Breitete sich gar eine Seuche aus, deren Ursache man nicht kannte? Da suchte man verzweifelt nach einem Sündenbock. Wer hat die Brunnen vergiftet? Wer hat das Vieh verhext? Wer war bei dem Kranken, bevor er starb? Eine Hexe! (Fast immer waren es Frauen.) Sie stand mit dem Teufel im Bund! Der gute Gott kann es nicht gewesen sein, der dieses Unglück gebracht hat, also muss es der Teufel sein. Und so wurden denn diese armen Frauen so lange gefoltert, bis sie zugaben, mit dem Teufel im Bund zu stehen, und dann grausam verbrannt. Wobei der Gipfel des Hexenwahns nicht im Mittelalter lag, sondern in der Neuzeit (16. und 17. Jahrhundert). Das beste Heilmittel gegen diesen Wahn war der Fortschritt der Naturwissenschaften. Damit wurde klar, dass nicht böse Menschen das Unglück verursachen, sondern Bakterien, Viren oder was auch immer.

Strafe Gottes?

Aber gibt es nicht heute immer noch Leid und Unglück, das die Wissenschaft nicht erklären kann? Und selbst, wenn sie es kann, verstummen doch die Fragen nicht. Warum ist der eine von Kindheit an krank, der andere gesund und fidel bis in sein hohes Alter? Warum muss gerade ich ein Leid tragen, unter dem ich fast zusammenbreche? Die Antwort darauf kann mir weder ein primitiver Hexenglaube noch die moderne Naturwissenschaft geben. Denn es ist eine Frage nach dem Sinn.

Will Gott mich mit dem Leid strafen, ist das der Sinn? Viele glauben das, ob bewusst oder unbewusst, und sagen: „An einen Gott, der die Menschen so leiden lässt, kann ich nicht mehr glauben!“

Die Jünger Jesu sahen einmal einen Blinden, und sie fragten: „Meister, wer hat gesündigt, dieser oder seine Eltern, dass er blind geboren wurde?“ Jesus antwortete: „Weder er noch seine Eltern haben gesündigt, sondern das Wirken Gottes soll an ihm offenbar werden“ (Johannes 9,2 f). Leid und Krankheit müssen also keine Strafe Gottes sein. Wenn man davon überzeugt ist, wird die Wut auf Gott, der einem das „eingebrockt hat“, sich legen.

Ein alter Christuskorpus, der schon
einiges mitgemacht hat, aus
St. Stephan, Dießen a. Ammersee.

Wohl kann es sein, dass eine Krankheit eine Strafe ist, die du dir selbst „eingebrockt“ hast. Gottes Gebote dienen deinem Leben und deiner Gesundheit, und wenn du sie missachtest, bestraft dich dein eigener Körper. Ich will jetzt gar nicht vom Koma-Saufen reden, wo die „Schnapsleichen“ ins Krankenhaus eingeliefert werden. Der Kettenraucher, der Lungenkrebs bekommt, der Trinker mit Leberzirrhose, die Kaffeetante, die auf süße Torten nicht verzichten kann und dabei immer mehr zunimmt – das alles sind kleine Beispiele dafür, wie das Leiden wohl eine Strafe sein kann, aber eine, die du dir selbst zugefügt hast.

Der Gekreuzigte

Warum müssen Menschen (und Tiere!) so grausam leiden? Ich habe die falschen und ungenügenden Antworten beiseite geräumt – aber wo ist nun die richtige Antwort? Ich kann sie leider nicht eins, zwei, drei demonstrieren. Als meine eigene Mutter unter grausamen Qualen erstickte, habe ich gesagt: Mein einziger Trost ist, wenn ich Jesus am Kreuz anschaue. Gott hat uns keine theoretische Antwort auf das Warum des Leidens gegeben. Doch er hat seinen geliebten Sohn leiden und sterben lassen, damit jeder Leidende und Sterbende in ihm einen Gefährten und Tröster hat. Wenn das Leiden seines Sohnes Gottes Ausdruck seiner Liebe war, dann ist auch das Leiden, das er uns schickt, Ausdruck seiner Liebe zu uns. Im Blick auf den gekreuzigten Christus, mit dem wir in Taufe und Glauben verbunden sind, können wir es annehmen.

Euch eine gesegnete Passionszeit und ein frohes Osterfest

Euer
Karl Neumann