28. Glaubensbrief - September 2008   PDF-Zeichen als PDF-Datei (69 kB)

„Lassen Sie sich nichts gefallen!“

Die Bergpredigt Jesu wird viel gelobt – aber wer lebt im Ernst danach? (Sie steht bei Matthäus im 5. bis 7. Kapitel.) Hältst du die andere Wange hin, wenn dich einer auf die rechte Wange schlägt (5,39)? Gibst du dem, der dir das Hemd wegnehmen will, auch den Mantel dazu (5,40)? Kurz: Handelst du, wie Jesus gesagt hat: „Leistet dem, der euch etwas Böses antut, keinen Widerstand!“ (5,39)? Wird man hier nicht dazu aufgefordert, sich alles gefallen zu lassen?

Sich verteidigen lernen

Aber: „Lassen Sie sich nichts gefallen!“ nennt sich ein Buch, das heute viel gelesen wird. „Sag nicht Ja, wenn du Nein sagen willst“ heißt ein anderes. Eine ganze psychologische Populärwissenschaft stößt ins gleiche Horn: Du musst lernen, dich zu wehren. Das Leben ist hart, du musst lernen, dich zu behaupten, musst deine Rechte kennen, dich durchsetzen. Nur keine Minderwertigkeitsgefühle!

Ist das nicht das Gegenteil von dem, was Jesus in der Bergpredigt sagt? Und steckt darin nicht auch ein Stück Wahrheit? Kann man mit der nachgiebigen Haltung, die Jesus offenbar verlangt, in der heutigen Welt durchkommen? Und selbst wenn man nicht „durchkommen“ und keine Karriere machen will, ist ein gesundes Selbstbewusstsein und eine gesunde Selbstbehauptung nicht für die seelische Gesundheit wichtig? Der Christ soll doch lebenstüchtig sein und nicht mit Minderwertigkeitsgefühlen herumlaufen.

Wie kann man Bergpredigt und Psychologie vereinbaren?

Ich weiß, dass das für nicht wenige Christen ein wirkliches Problem ist. Wie soll man es lösen?

Ich habe einmal folgende Antwort gehört:
Ja, es ist gut, wie Jesus sagt, dem, der dir Böses antut, keinen Widerstand zu leisten. Es ist gut, dem, der dir das Hemd wegnehmen will, auch noch den Mantel zu geben. Aber das muss deine freie Entscheidung sein. Das heißt: du musst auch anders können. Es gibt Menschen, die sitzen so fest in ihrer Bravheit und Wohlerzogenheit, dass diese wie eine Zwangsjacke, wie ein Kerker wird, aus dem sie nicht herauskönnen, obwohl sie es gerne möchten. Sie haben nie gelernt, sich zu wehren und ihren Standpunkt zu vertreten, sie stecken voller Minderwertigkeitsgefühle. Diese Menschen müssen lernen, ein normales gesundes Selbstbewusstsein zu entwickeln, sie müssen ihr Verhaltensrepertoire erweitern, dass sie auch ihre Aggressionen (angemessen) ausdrücken können, dass sie z.B. streiten lernen.
Wenn sie das können, wenn sie also nicht mehr lieb und nett und nachgiebig sein müssen, dann können sie frei das tun, was Jesus als Ideal des Menschen, der ganz im Vertrauen auf den Vater und in der Erwartung des Reiches Gottes lebt – was er von diesem Menschen erwartet: dass sie ihre Feinde lieben, dass sie dem Aggressor noch eins draufgeben und ihm auch die andere Wange hinhalten, ihm auch noch den Mantel geben usw. Ja, sie geben dem Aggressor noch eins drauf und zeigen dadurch ihre Freiheit – und sie beschämen ihn.

Jesus sprach zu Menschen mit stabilem Selbstbewusstsein

Wer in gesundem Selbstbewusstsein steht,
ist frei, anders zu handeln

Das alles ist nun wirklich nicht die schwächliche Nachgiebigkeit, als die wir es oft missverstehen, und es ist mit den Zielen der Psychologie, ein gesundes Selbstbewusstsein aufzubauen, sehr wohl vereinbar.

Ich denke manchmal: Jesus hat in der Bergpredigt zu Menschen gesprochen, die seelisch robust und gesund waren. Die Bauern und Fischer, die ihm zuhörten, hatten keine Probleme, ihre Aggressionen zu äußern und sich im Leben durchzuschlagen. Solchen Menschen musste er sagen: Verzichte auf Rache! Wenn du geschlagen wirst, schlag nicht zurück, sonst wird der Kreislauf des Bösen nie durchbrochen. Schlag dem Aggressor ein Schnippchen, indem du ihm mehr gibst als er fordert, dann ist er erst mal platt.

Aber zu seelisch kranken Menschen müsste Jesus anders reden. Für sie ist ja passive und ängstliche Nachgiebigkeit das, was ihnen sowieso am nächsten liegt. Es ist Ausdruck und Symptom ihrer kranken Seele. Sie sind in Gefahr, die Weisungen Jesu misszuverstehen und falsch zu gebrauchen.

Wie beides zu vereinbaren ist, kann man an Jesus selbst sehen. Er war der liebevollste Mensch, war in seiner Passion „wie ein Lamm, das man zur Schlachtbank führt“ (Apostelgeschichte 8,32). Aber er war kein Weichei, konnte, wenn es sein musste, Aggressionen zeigen, z.B. gegen die Verlogenheit der Pharisäer. Er war ein seelisch robuster und gesunder Mensch. An ihm könnten sich manche Frommen ein Beispiel nehmen. Und manche „Unfrommen“ ebenso.

Die olympischen Spiele in Peking sind vorbei. Meine chinesischen Freunde waren richtig stolz auf die grandiose Eröffnungs- und Abschlussfeier. Auch Ferien und Urlaub dürften vorüber sein. So wünsche ich euch einen guten und gesunden Start zurück in den Alltag.

Euer
Karl Neumann