19. Glaubensbrief - Dezember 2007   PDF-Zeichen als PDF-Datei (82 kB)

Die dunklen Tage

Ich hatte einen Freund, der erkrankte im mittleren Lebensalter an einer Depression. Jedes Jahr im Dezember und Januar überfiel ihn diese heimtückische Krankheit. Dann war er unfähig, seinen Beruf auszuüben; er war unfähig, irgendetwas Vernünftiges zu tun. Seine Krankheit überfiel ihn stets in der dunklen Jahreszeit. In seiner Verzweiflung floh er in den Süden. Dort, im hellen Licht der Provence, dachte er Heilung oder wenigstens Linderung zu finden.

Ich denke, auch wir, die wir nicht unter Depression leiden, spüren das Belastende dieser dunkelsten Zeit des Jahres. Die Blätter sind abgefallen, Bäume und Sträucher stehen kahl da. Nicht zufällig ist der November der Totenmonat. Doch der dunkelste Monat ist der Dezember. Aber seltsam, ich muss sagen, dass ich diesen Monat gar nicht als so dunkel empfinde. Es riecht nicht mehr nach Tod und Sterben in Natur und Kultur. Nein, die Dunkelheit gibt die Folie ab, vor der das Licht leuchten kann. Wenn das Dunkel sich mehrt, mehrt sich das Licht.

Wir machten uns „Rauchfässer“

Ich denke, jede und jeder von euch hat Erinnerungen an eine Adventszeit, die in all dem Dunkel voll Erwartung und Vorfreude war.

Mir ist eine Erinnerung aus meiner Kindheit noch lebhaft im Gedächtnis. Wir Jungen machten uns „Rauchfässer“ aus einer Blechbüchse, an der oben ein langer Draht befestigt war, sodass man das Rauchfass schwingen konnte. Kohle hatten wir, nur der „Weihrauch“ fehlte uns noch. Wir gingen durch den dunklen Dezembernachmittag auf den Tannenwald zu, der unserem Dorf am nächsten lag. An den hohen Fichtenstämmen fanden wir reichlich duftendes Harz für unsere Rauchfässer. Als wir ins Dorf kamen, war es allmählich Abend geworden. An den langen Drähten schwangen wir die Rauchfässer über unseren Köpfen; die Kohlen glühten in der Dunkelheit auf, das Harz duftete in der kalten Luft.

Ein unscheinbares Kinderspiel, gewiss, aber ein Beispiel dafür, wie die Dunkelheit der Jahreszeit den Hintergrund bildet für Wärme, Duft und Glut. Wo das Dunkel sich mehrt, mehrt sich das Licht.


Viele kleine Lichter hellen die Dunkelheit auf

Das sprechendste Beispiel dafür ist der Adventskranz. Draußen wird es jeden Tag ein wenig früher dunkel. Aber je dunkler es draußen wird, desto zahlreicher werden drinnen die brennenden Kerzen am Adventskranz. Das wachsende Licht bildet ein Gegengewicht gegen die wachsende Dunkelheit. Und zugleich sind die Kerzen am Kranz eine Art Adventskalender: am ersten Adventssonntag wird eine Kerze angezündet, dann steigt die Erwartung: zwei Kerzen leuchten, dann drei, schließlich vier – das Licht von Weihnachten leuchtet immer heller in den Advent hinein.

Wurde Jesus im Sommer geboren?

Und dann kommt es: das Fest der Lichter, das Fest der Geburt Jesu.

Wann wurde Jesus eigentlich geboren? Ehrlich gesagt: wir wissen es nicht. Wurde er im Winter geboren? Vielleicht. Vielleicht aber auch im Sommer. Oder im Herbst. Oder im Frühjahr. Wir stellen uns natürlich vor, dass er im Winter geboren wurde, weil wir Weihnachten im Winter feiern. Unsere Weihnachtsbilder zeigen es ja, unsere Weihnachtslieder singen ja davon: Da liegt das Jesuskind nackt und frierend auf dem harten Stroh, und durch die Dachsparren des Stalles pfeift der kalte Wind.

Trotzdem: Wir wissen nicht, wann Jesus geboren wurde. Vielleicht wurde er im Sommer geboren, bei dreißig Grad im Schatten. Wer weiß?

Die Sonne wird krank

Wie kam man aber dazu, das Weihnachtsfest im Winter zu feiern, am 25. Dezember?

Stellt euch vor, wie die Menschen in alter Zeit den Winter erlebten. Da sahen sie, wie die Sonne jeden Tag ein wenig früher unterging und ein wenig später aufging. Die Tage wurden immer kürzer, die Nacht und das Dunkel immer länger und bedrohlicher. Es gab ja noch kein künstliches Licht. Außerhalb des Feuers und der Öllampe war kohlpechrabenschwarze Nacht. Das kam von der Sonne, merkten sie. Die Sonne wurde jeden Tag schwächer, sie schien krank zu sein. Wird es so weitergehen? Wird die Sonne sterben? Im letzten Winter war es noch einmal gutgegangen, würde es auch diesmal wieder gutgehen? Das war die bange Frage, das bange Warten. – Und dann kam der befreiende Moment. Langsam, ganz allmählich kam die Sonne wieder zu Kräften. Man konnte es am Horizont sehen: Jeden Tag ging sie jetzt ein wenig später unter, ein wenig früher auf. Es war Sonnen-Wende, die Wintersonnenwende. Ich kann mir vorstellen, wie groß der Jubel war. Man feierte das. Der Sonnengott hatte sich als unbesiegbar erwiesen. So feierte man im antiken Rom das Fest des sol invictus: des unbesiegbaren Sonnengottes.

Der unbesiegbare Sonnengott

Und nun kam das Christentum in diese römisch-griechische Welt. Was konnte passender sein, um die Geburt des Sohnes Gottes zu feiern, als das Fest des sol invictus? Christus ist die unbesiegbare Sonne, die in der tiefsten Nacht, im tiefsten Winter, aufging. Wenn sich das Dunkel mehrt, mehrt sich das Licht. Das Dunkel erreicht um Weihnachten seinen Höhepunkt. Und darum auch das Licht. Das wachsende Licht der vier Adventskerzen setzt sich fort an Weihnachten, dem strahlenden Fest der Lichter. Hier wird die Nacht zur Weih-Nacht, zur geweihten Nacht.

Euch allen nach einem besinnlichen Advent ein leuchtendes Weihnachtsfest!

Euer
Karl Neumann