Glaubensbrief - Juni 2006   PDF-Zeichen als PDF-Datei (87 kB)

Ein Gottesbeweis auf zwei Beinen

Ein junger Mann hatte eine jener Gruppen kennen gelernt, die das, wovon viele reden, wirklich tun: sie leben anders. Und er spürte: das Geheimnis, das diese Gruppe zusammenhielt, hatte einen Namen: Gott. Diesem Geheimnis wollte er auf die Spur kommen. „Ich kann zwar noch nicht an euren Gott glauben“, sagte er dem Leiter. „Aber so wie ihr seid, so möchte ich auch sein.“   


Göttliches Licht, das verwandelt

Einer meiner Freunde hatte einige Monate bei den Dominikanern in Jerusalem gelebt. Begeistert erzählte er mir: „Diese Dominikaner sind für mich ein Gottesbeweis – der beste Gottesbeweis, den ich kenne“. Das ist nicht übertrieben. Es gibt keinen Gottesbeweis, der tiefer beeindruckt, der mehr überzeugt als ein Mensch, den der Glaube verwandelt hat. Oft ist es, wie bei den genannten Beispielen, eine Gemeinschaft von Christen. Du kommst dorthin und du spürst: sie nehmen dich an, sie hören dir zu. Es sind Menschen, die sich der Verwandlungskraft des göttlichen Lichtes ausgesetzt haben. Auch wenn du an die Quelle (das göttliche Licht) nicht glaubst, du kannst doch die Wirkung nicht bestreiten: sie sind zu liebenden Menschen geworden.

Die Begegnung mit Taizé und mit Frère Roger hat mich tief geprägt. Und ich habe mir gesagt: Frère Roger und manche seiner Brüder gehören zu den faszinierendsten Menschen, die ich kenne. Auch Papst Johannes XXIII. gehört dazu. „Zufällig“ sind das alles sehr religiöse Menschen. An der Religion, die sie so geformt hat, muss doch etwas dran sein. Zumindest hat sie wie nichts anderes, das ich kenne, die Kraft, Menschen zu formen und zu liebenden Menschen zu machen. Nun – ist das kein „Gottesbeweis“, wie mein Freund es ausdrückte?  Ich glaube, ja, und nicht der schlechteste.

Frère Roger schreibt: „Die Menschen, die zu uns kommen, erwarten Brot. Böten wir ihnen Steine zum Anschauen, hätten wir unsere Berufung verfehlt. Sie suchen Menschen, die Gott ausstrahlen. Das setzt ein in Gott verborgenes Leben voraus, damit in uns die Präsenz Christi neu lebendig werde.“

Man spricht viel von Ausstrahlung. „Dieser Politiker hat keine Ausstrahlung“, sagt man etwa. Aber hier geht es um mehr. Die Besucher, die z. B. heute in ein Kloster kommen, suchen nicht clevere Prediger, auch keine Stars im geistlichen Gewand. „Sie suchen Menschen, die Gott ausstrahlen“. Sie suchen lebendige Gottesbeweise – Menschen, in denen die Präsenz Gottes spürbar wird.


Miteinander teilen

Im zweiten Brief des „Schnupperkurs Glauben“ habe ich gesagt, warum ich glaube. Ich müsste noch ergänzen: Ich glaube auch, weil mir solche faszinierenden Menschen begegnet sind. Auch ich könnte sagen: „So wie ihr seid, so möchte ich auch sein“. Sie machen Gott sichtbar, der muss genauso faszinierend sein wie sie.

Ein Obdachloser sagte zu Abbé Pierre, der unter den Armen lebte: „Ich glaube nicht an den Gott der anderen. Ich glaube an das, was Sie leben“. Dieser Mann war tief enttäuscht von vielen religiösen Menschen, die gerade ihre Religion hart und intolerant gemacht hatte. Er schloss von den Menschen auf ihren Gott, und an einen solchen Gott konnte und wollte er nicht glauben. An was er glauben konnte, war der Gott, den Abbé Pierre lebte: einen Gott, der zu den Armen hält, der selbst unter den Armen lebt. Aber dieser Gott (und nur dieser Gott) ist der Gott Jesu Christi. Der andere ist ein Popanz, den sich die Menschen selbst erfunden haben.

Bist du auch in deinem Leben solchen „lebendigen Gottesbeweisen“ begegnet?

Mit einem herzlichen Gruß

Euer Karl Neumann