Meine Begegnungen - 11. Brief, April 2006   PDF-Zeichen als PDF-Datei (132 kB)

Geschenktes Leben

Meine Begegnung mit dem Tod

Es ist keineswegs so, dass meine Begegnung mit dem Tod zeitlich die letzte meiner Begegnungen wäre. Es ist umgekehrt: was ich jetzt schreibe, liegt weiter zurück als alles, was ich bisher gebracht habe. Ich muss zurückgehen bis in mein sechzehntes Lebensjahr.

Ich war im Internat, auf der Untersekunda, wie man das damals nannte. Da erkrankte ein Klassenkamerad an Leukämie. Er kam ins Krankenhaus, und in den langen Tagen auf dem Krankenbett war es sein Vergnügen, mit dem Kursbuch Reisen zusammenzustellen. Todkrank, wie er war, reiste er in der Phantasie nach dem Süden, in eine schöne Gegend, die ihm seine Vorstellungskraft ausmalte, oder in Richtung seiner alten Heimat Ostpreußen, oder wohin immer er Lust hatte. Und jede Reise wurde akkurat mit allen Anschlusszügen nach dem Kursbuch zusammengestellt. Wirklich, keine schlechte Methode, um die düsteren Gedanken der schweren Krankheit zu vertreiben.

Totenwache um Mitternacht

 

Trotzdem, sein Gesicht wurde bleicher und bleicher. Die Bluttransfusionen halfen nicht mehr, und an einem kalten Tag im Januar 1955 starb unser guter Klassenkamerad.

Wir hielten die Totenwache. Mutig wie ich war, schrieb ich mich auf, in der "Geisterstunde" um Mitternacht am offenen Sarg zu wachen. Es war noch ein Kamerad dabei. Der große Raum, in dem der Sarg stand, war nur von sechs Kerzen erhellt. Im flackernden Schein der Kerzen schien es bisweilen, als ob sich die Gesichtszüge des Toten bewegten. Doch Angst spürte ich erst, als ich allein durch die weiten dunklen Flure und Treppen gehen musste, um im Schlafsaal oben die nächsten beiden zu wecken, die ab ein Uhr zu wachen hatten.

Am nächsten Tag fand die Beerdigung statt, bei der ich einen Kranz tragen sollte. Es war bei der Totenmesse, die der Beerdigung vorausging, da schien es mir, als ob der Gesang plötzlich leiser würde, er kam wie von weit her. Zugleich wurde es dunkel vor den Augen. Ich musste mich setzen. Der Anfall war bald vorbei, aber ich war noch immer so schwach, dass ich einen Freund bat, den Kranz zu tragen. Ich ging nicht mit zum Friedhof.

Herzklopfen

Am Nachmittag klopfte das Herz und schmerzte so stark, dass ich zur Krankenabteilung ging. Der Bruder war anscheinend besorgt und legte mich gleich ins Bett. Das Herz klopfte wie wild, und ich war allein mit meinen Gedanken. Man wird es kaum glauben, aber ich weiß noch, was ich damals dachte, denn es wurde wichtig für mein ganzes Leben. Einige Tage lag ich krank, und ich hatte genug Zeit, nachzudenken.

Was, wenn ich jetzt sterben würde? So dachte ich. Was sollte diese seltsame Krankheit bedeuten? Ich wusste es nicht. Aber ich musste an den Tod denken, nicht nur an den meines Kameraden, auch an meinen eigenen. Wenn mein Leben jetzt schon zu Ende wäre, nach nicht einmal sechzehn Jahren? Ich empfand es wie ein unfertiges Bruchstück. Und das nicht nur, weil meine Ausbildung nicht abgeschlossen war. Wenn ich jetzt vor Gott treten müsste, wie würde ich vor ihm stehen? Ich hatte mir darüber meist herzlich wenig Gedanken gemacht. Das sollte anders werden. Wenn ich wieder gesund würde, wie würde ich dann mein Leben führen, nachdem ich einmal dem Tod ins Auge geschaut hatte? Es würde nicht mehr sein wie bisher, das war mir klar. Den "Rest" meines Leben, den Gott mir schenken würde, würde ich - eben als Geschenk betrachten, und ich würde dieses Geschenk nach der Absicht des Gebers gebrauchen.

Die Rechnung ohne den Wirt gemacht

 

Es wäre dumm, das anders machen zu wollen. Ich hatte in diesen Tagen handgreiflich erfahren, wie sehr unser Leben von Gott abhängt. Wie könnte man eine Lebensrechnung machen, ohne den einzubeziehen, von dem es abhängt? Dann hätte man wahrhaftig die Rechnung ohne den Wirt gemacht, und das kann nicht gut gehen.

Man kann so dumm sein und sein Haus auf Sand bauen. Und das tut man, wenn das Lebensgebäude, das man baut, vor dem Tod nicht bestehen kann.

Was sollte ich also aus meinem Leben machen, in den "wenigen" Jahren, die mir noch bleiben würden? Ja, es waren "wenige", ob es nun sechs oder sechzig sein würden.

Mir war klar: in dieser geschenkten Zeit war es das einzig Richtige, für Gott zu leben. Er ist der Fels, auf den man das Haus seines Lebens bauen kann. Dann können die Fluten kommen, die Krisen des Lebens, die Rückschläge, vielleicht das Scheitern - meinem Haus, das auf diesen Felsen gebaut ist, können sie nichts anhaben.

Was heißt das konkret?

Mein Haus nicht auf Sand bauen

Für mich hieß es: ganz für Gott leben, auch beruflich, hauptberuflich sozusagen. Hier entstand mein fester Entschluss, einen geistlichen Beruf zu ergreifen. Man spricht da gern von Berufung. Für mich war es nicht das, was man sich unter Berufung vorstellt. Es war eine ganz nüchterne und rationale Sache, es war einfach das Beste, was ich aus meinem Leben machen konnte. Ich wäre ja dumm gewesen, mein Haus nicht auf diesen Felsen zu bauen, sondern auf den Flugsand der menschlichen Eitelkeiten, auf den so viele ihr Leben bauen.

 

Diese Sicherheit gab mir einen gewissen bescheidenen Stolz, wenn man das Paradox erlauben will. Ich fühlte mich den vielen überlegen, die gedankenlos und mit spiritueller Kurzsichtigkeit an ihr Leben herangehen.

Der Rest meiner Geschichte ist schnell erzählt. Mein Zustand besserte sich. Der Winter schwand, und mit den ersten Schneeglöckchen, den gelben Krokussen, den weithin schallenden Rufen der Singdrossel fand ich auch in mir ein neues Leben. Mein geschenktes Leben begann. Die Neugeburt der Natur und die innere Neugeburt des Genesenden spielten zusammen und machten dieses Frühjahr 1955 zu einer unvergesslichen Zeit.

An Ostern feiern wir das Pascha: den "Hinübergang" unseres Herrn aus dem Tod ins Leben, aus dieser Welt zum Vater. Dazu wünsche und erbitte ich auch euch eine Neugeburt, ein Stück geschenktes Leben.


Euer Karl Neumann