Meine Begegnungen - 10. Brief, März 2006   PDF-Zeichen als PDF-Datei (137 kB)

Glut unter der Asche

Meine Begegnung mit der Jerusalem-Gemeinschaft

In unserem Gymnasium hing auf dem Flur ein Foto. Es zeigte die Schriftstellerin Ida Friederike von Coudenhove-Kalergi. Jugendlich sah sie aus, mit Haaren wehend im Wind. Darunter stand in Handschrift: "Ich liebe die wandernde Straße mehr als das Ziel. Mehr als den Hafen lieb ich den schleudernden Kiel ... Mehr als das himmlische Blau der Wolken zerfetztes Fanal."

Das traf. Nicht im Hafen liegen, nicht fertig und zufrieden sein, sondern auf der Suche, darin erkannte ich auch so etwas wie mein Lebensprogramm.

Neue geistliche Gemeinschaften

Nehmen wir die Suche nach neuen spirituellen Wegen. Die bisherigen Folgen der "Begegnungen" sind ein sprechender Beleg dafür. Als ich nach 13 Jahren Japan wieder nach Deutschland zurückkam (1991), war es ein Schock. Ich sah so viele alte Gesichter in der Kirche. Und in den Orden. Alles schien zu altern, zurückzugehen.

Doch so war es nicht. Wenn man näher hinschaute und die Augen aufmachte, entdeckte man da und dort Glut unter der Asche. Wie in einem Kahlschlag, wo sich zaghaft wieder neue Pflänzchen regen, sah man es da und dort sprießen. (Ob dafür ein Kahlschlag nicht manchmal sogar notwendig ist?) Ich entdeckte neue spirituelle Bewegungen, neue geistliche Gemeinschaften. Sie zogen Menschen an.

Frère der Jerusalem-Gemeinschaft

In Japan hatte ich ein japanisches Buch gesehen, das von einer solchen Gemeinschaft erzählte. Ich habe es nur flüchtig angeschaut. Auf dem Cover war eine Schwester in schlichter Tracht zu sehen, die einen siebenarmigen Leuchter anzündete. In Paris sollte diese Gemeinschaft entstanden sein. Ich suchte danach, als ich nach Paris kam, fand sie aber nicht.

Bald jedoch hörte ich den Namen dieser neuen geistlichen Gemeinschaft: communion de Jérusalem, Jerusalem-Gemeinschaft. Und wie es der Zufall will, ich entdeckte einen Leserbrief in einer Zeitschrift, dort stand, dass man in München eine solche Gemeinschaft aufmachen wollte. Interessenten sollten sich melden.

Ich musste für die Brüder kochen

Natürlich meldete ich mich, zumal ich damals in München lebte. Wir waren eine Gruppe von fünf bis zehn Leuten, die sich nun regelmäßig trafen. Im Herbst 1993 fuhr ich nach Paris und lebte drei Wochen in der dortigen Jerusalem-Gemeinschaft. Wie die Brüder arbeitete ich halbtags, und zwar am Vormittag. Für die Brüder sollte ich das Essen kochen. Ich konnte nicht einmal in Deutschland kochen, viel weniger die feinen Gaumen der Franzosen zufrieden stellen. Ein Bruder hatte morgens die wichtigsten Rezepte aufgeschrieben, ehe er zur Arbeit fuhr, und danach ließ er uns mit den Rezepten allein. Außer mir war noch ein junger Pole dabei, der ebenfalls Gast war. Der Pole konnte ein wenig kochen, ich konnte ein wenig französisch, so dass ich das Rezept übersetzen konnte, und so brachten wir denn unser erstes Mittagessen auf den Tisch. Beim Essen war Stillschweigen, aber nach dem Essen hörte ich ein höfliches Kompliment. Es hatte den Brüdern anscheinend gemundet. Bis ich eine Woche später die Wahrheit hörte: Jetzt, sagten sie, könne man essen, was wir gekocht hätten. Aber in den ersten Tagen sei es ziemlich ungenießbar gewesen.

Das Essen war übrigens einfach, als Getränk gab es lediglich Leitungswasser. Bei jeder Mahlzeit war Stillschweigen, außer sonntags. Auf den Zimmern der Brüder herrschte äußerste Einfachheit, ja Armut.

Nur in der Kirche sind Schwestern und Brüder zusammen

Doch um so reicher war die Liturgie. Im großen Chor der Kirche St. Gervais standen Brüder und Schwestern in zwei großen Blöcken nebeneinander. Morgens, mittags und abends wurde das Chorgebet gesungen, dazu die Eucharistie (Messe). Der Gesang war vierstimmig, an den mehrstimmigen Gesang der Ostkirche erinnernd; die zwei Männer- und zwei Frauenstimmen ergaben eine großartige Harmonie. Die Brüder und Schwestern waren jung, und so war auch das Publikum: auch am Werktag war die Kirche gut gefüllt mit zumeist jungen Leuten. Die Schwestern wohnten in einiger Entfernung von den Brüdern. Nur beim Gottesdienst waren sie zusammen.

Ich hatte ein langes Gespräch mit dem Gründer und Leiter der Jerusalem-Gemeinschaft, Pierre-Marie Delfieux. Er fragte mich, was ich von der Idee hielte, in Berlin eine Niederlassung zu eröffnen. Auch nach Tokio, wo ich ja einige Zeit gelebt hatte, fragte er. Denn gerade in die am meisten säkularisierten Großstädte wollten die Brüder gehen, nach ihrem Leitspruch: "Im Herzen der Städte - im Herzen Gottes".

Auch über unsere Gründung in München sprachen wir. Wir waren uns einig, dass es keine Niederlassung der Jerusalem-Gemeinschaft sein könnte. Es müsste eine eigene Gründung mit eigenem Namen sein, die sich aber an der Jerusalem-Gemeinschaft orientierte.

Der "harte Kern" fängt an

Im Benediktinerkloster

Ein Jahr später, im Oktober 1994, wurde es Ernst. Wir zogen in ein Benediktinerkloster in der Nähe von München, um dort unsere Gründung vorzubereiten. Der "harte Kern", der nun wirklich ernstlich mitmachen wollte, waren vier Personen: der eigentliche Gründer (ein Münchner Pfarrer), eine Gemeindereferentin, eine Studentin und ich.

Die Mönche dieses Klosters übten eine Art Patenschaft über uns aus, und als wir ein Jahr später (1994) das Ordenskleid anzogen, das wir für unsere Gemeinschaft entworfen hatten, überreichte uns der Abt jenes Klosters unser Ordenskleid.

Wir hatten mittlerweile unser eigenes Haus. Im Norden Münchens gab es eine Ordenspfarrei, die frei wurde. Dort wohnten wir in dem erweiterten Pfarrhaus, in dem früher die Männer und Frauen jenes Ordens gewohnt hatten. Wir beiden Priester arbeiteten in der Pfarrei, die beiden Frauen in ihren jeweiligen Berufen.

So sah unser Tag aus:
Um 6.30 Uhr morgens waren wir in der Kirche zu einem stillen Gebet.
Um 7.00 Uhr sangen wir das Morgenlob. Danach Frühstück in Stillschweigen. Und Arbeit.
Mittags ein Mittagslob, danach Mittagessen in Stillschweigen, anschließend eine gute halbe Stunde gemeinsame Erholung.
Der Nachmittag sollte eigentlich wie in Paris dem Gebet, der Meditation und geistlichen Lesung dienen. Dafür hatten wir wie in der Jerusalem-Gemeinschaft nur Halbtagsstellen angenommen, doch das ließ sich in der Praxis schwer einrichten.
Um 17.30 Uhr stilles Gebet in der Kirche, 18.00 Abendlob, 18.30 Eucharistiefeier (Messe). Danach Abendessen in Stillschweigen.
Am Donnerstag nach der Messe zwei Stunden Anbetung.
Sonntags im ganzen die gleiche Gebetsordnung. Bei den Mahlzeiten kein Stillschweigen.

Grundsätzlich keine Angestellten

Viel Freizeit blieb da natürlich nicht, zumal wir prinzipiell keine Angestellten hatten. Das Kochen, Spülen, Hausputzen, Wäschewaschen erledigten wir selbst. Doch die tägliche gemeinsame Erholung nach dem Mittagessen war eine gute Entschädigung; und einmal in der Woche war "Wüstentag". Da gab es keine gemeinsamen Gebete und Mahlzeiten. Ich ging dann oft auf eine große Wanderung.

Wir im Gottesdienst-Gewand

Das alles war so wie bei unserem Vorbild: der Jerusalem-Gemeinschaft in Paris. Wir hatten jeden Nachmittag ein Gespräch über deren Regel (jetzt neu herausgekommen unter dem Titel:
"Im Herzen der Städte. Lebensbuch der Monastischen Gemeinschaften von Jerusalem" Herder-Verlag, Freiburg i.Br.)

Auch in der Einfachheit des Lebensstils waren wir unserem Vorbild treu.

Im ganzen Haus gab es kein Fernsehen, auf den Zimmern kein Radio. Mein Radio stand im Esszimmer, weil wir während des Mittagessens das "Mittagsmagazin" des Bayrischen Rundfunks hörten. Den Großteil unserer Bücher hatten wir nicht auf dem Zimmer, sondern stellten ihn zu einer gemeinsamen Bibliothek zusammen.

Auch unsere Einnahmen gingen in einen gemeinsamen Topf. Jeder erhielt daraus ein bescheidenes Taschengeld. Wir nannten uns Schwester NN. und Bruder NN. Alle waren gleich, auch wir Priester nannten uns "Bruder".

Das war unser Lebensstil: alles miteinander teilen, demokratische Gleichheit, einfach leben ohne teure Angestellte, Zeit für Stille und Gebet. Nie im Leben, weder vorher noch nachher, habe ich so wie damals nach dem Evangelium zu leben versucht. In den traditionellen Orden hätte man solche Dinge wohl nie verlangen können. Hier begannen wir neu, mit der ganzen Kraft des Anfangs.

Das Experiment scheiterte

Und trotzdem ist das Experiment gescheitert. Nicht weil die Lebensform schlecht oder unrealistisch gewesen wäre. Sondern einmal, weil unsere vier Mitglieder einfach zu wenige waren. Schon der Gründer der Jerusalem-Gemeinschaft, Pierre-Marie Delfieux, hatte mir gesagt: "Mit vier Leuten braucht ihr gar nicht anzufangen. Das wird nicht gut gehen". Wir hofften aber, wenn wir anfingen, würden sich schon weitere Interessenten melden. Doch daran fehlte es. Ein weiterer Grund waren innere Spannungen in der Gruppe. Wenn vier Leute eine neue Gemeinschaft gründen wollen, überdies zwei Frauen und zwei Männer, dann stellen sie bald fest, dass ihre Ansichten und Ideale doch verschiedener sind als sie anfangs dachten.

Mir fällt das Bild vom Kahlschlag wieder ein. Wenn die alten Bäume sterben, sprießen viele junge Pflänzchen aus dem Waldboden. Nicht alle werden groß, aber dieses Sprießen, Wachsen und Vergehen ist ein Zeichen von neuem Leben.

Habt Ihr auch nach neuen spirituellen Wegen gesucht? Welche Erfahrungen habt Ihr gemacht? Seht auch Ihr Glut unter der Asche? Eure Erfahrungen würden mich interessieren.

Euer Karl Neumann